Samhain – Das Fest der Ahnen und des Übergangs
- Bettina Koch

- 14. Okt.
- 7 Min. Lesezeit
Wenn die Tage kürzer werden, die Luft nach Erde, Rauch und feuchtem Laub riecht, wenn Nebel über die Felder ziehen und die Dunkelheit sich spürbar verdichtet, dann beginnt eine Zeit, die in vielen alten Kulturen als heilig galt: Samhain – das Fest der Ahnen, des Übergangs und der stillen Einkehr.

Zwischen den Welten: Wenn das Jahr stirbt und neu geboren wird
Samhain wird in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November gefeiert – also zu jener Schwelle, die wir heute als Halloween kennen. Es markiert das Ende des alten Jahres und den Beginn des neuen im keltischen Jahreskreis. In dieser Nacht, so glaubten die Kelten, wird der Schleier zwischen den Welten besonders dünn: Die Geister der Verstorbenen können die Erde besuchen, und die Lebenden dürfen einen Blick in die unsichtbare Welt werfen.
Samhain (ausgesprochen Sa-u-in oder So-win) ist damit weit mehr als ein Gruselfest. Hinter Kürbissen, Kostümen und Süßigkeiten verbirgt sich ein Fest von tiefer spiritueller Bedeutung. Es ist der Moment, in dem das Jahr stirbt, um neu geboren zu werden – ein Fest, das uns daran erinnert, dass Leben und Tod, Licht und Dunkelheit, Anfang und Ende untrennbar miteinander verbunden sind.
Der Ursprung von Samhain: Ein Blick in die keltische Zeit
Samhain stammt aus der keltischen Tradition und wurde etwa vor 2.000 Jahren in Irland, Schottland und Teilen Britanniens gefeiert. Für die Kelten war das Jahr in acht Abschnitte gegliedert – vier Sonnenfeste und vier Mondfeste, zu denen auch Samhain gehörte.
Samhain war dabei das Neujahrsfest: Das Ende des alten Zyklus und der Beginn des neuen. Die Ernte war eingebracht, die Tiere für den Winter geschlachtet, die Felder ruhten. Die Menschen wussten: Jetzt beginnt die dunkle Hälfte des Jahres – eine Zeit des Rückzugs, der Innenschau und des Vertrauens darauf, dass nach der Dunkelheit wieder Licht geboren wird.
Man entzündete große Feuer, um böse Geister fernzuhalten und den Ahnen Licht zu schenken. Essen und Getränke wurden als Opfergaben vor die Häuser gestellt – eine Geste der Dankbarkeit und des Gedenkens.
Diese Nacht war kein Grund zur Furcht, sondern zur Ehrfurcht. Sie war ein stilles Wissen darum, dass Tod und Leben Teil desselben Kreislaufs sind.
Von Samhain zu Halloween – Wie sich ein Fest verwandelte
Mit der Christianisierung Europas verschmolzen viele heidnische Bräuche mit kirchlichen Feiertagen. Die Kirche legte das Fest Allerheiligen auf den 1. November – genau auf den Tag, an dem Samhain gefeiert wurde. Der Abend davor wurde als All Hallows’ Eve bekannt – und daraus wurde Halloween.
Viele ursprüngliche Bräuche blieben erhalten: Verkleidungen sollten Geister täuschen, Lichter und geschnitzte Rüben (später Kürbisse) die Dunkelheit vertreiben. Irische Einwanderer brachten ihre Traditionen nach Amerika, wo sich daraus das bunte, kommerzielle Halloween entwickelte.
Doch tief unter der Oberfläche lebt der Kern von Samhain weiter – die Einladung, das Dunkle zu ehren, statt es zu fürchten.

Die energetische Qualität von Samhain
Energetisch gesehen steht Samhain für Loslassen, Wandlung und Neubeginn. Es ist die Zeit, in der die Natur stirbt – zumindest scheint es so. Blätter fallen, Pflanzen ziehen ihre Kraft in die Wurzeln zurück, Tiere bereiten sich auf den Winter vor. Doch unter der Oberfläche geschieht bereits die stille Vorbereitung auf neues Leben.
In der Yogaphilosophie könnten wir sagen: Samhain entspricht einer Phase des Pratyahara – des Rückzugs der Sinne. Eine Zeit, in der wir unsere Energie nach innen lenken, in die Dunkelheit unseres eigenen Bewusstseins. Dort, wo Heilung, Erkenntnis und Transformation beginnen.
Samhain erinnert uns daran, dass wir nicht ständig im „Tun“ bleiben müssen. Dass es Phasen braucht, in denen wir loslassen, trauern, ruhen und vertrauen. Es ist der Moment, in dem wir den Tod als Teil des Lebens akzeptieren – nicht nur im biologischen Sinn, sondern auch symbolisch: das Ende von Zyklen, Beziehungen, Lebensphasen, Mustern.
Samhain in anderen Kulturen
Der Gedanke, dass die Grenze zwischen den Welten im Spätherbst dünner wird, ist weltweit verbreitet:
In Mexiko feiern Menschen den Día de los Muertos – den Tag der Toten. Doch statt Trauer dominiert hier Lebensfreude: Bunte Altäre, Musik, Tanz und Speisen ehren die Verstorbenen in Liebe.
In Japan gibt es das Obon-Fest, bei dem Laternen aufs Wasser gesetzt werden, um die Ahnen zu begrüßen und zu verabschieden.
In China erinnert das Geisterfest (Zhongyuan Jie) an die Ahnen, denen Opfergaben dargebracht werden, um sie zu besänftigen.
In christlichen Ländern finden wir Allerheiligen und Allerseelen – Tage des Gedenkens und des Gebets für die Verstorbenen.
All diese Feste tragen denselben Kern in sich: die Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten, die Dankbarkeit für die, die vor uns waren, und die Anerkennung der Vergänglichkeit des Lebens.
Rituale und Inspirationen für Samhain
Samhain ist ein stilles, tiefes Fest. Kein Lärm, kein Spektakel – sondern ein bewusster Moment des Übergangs. Hier sind einige Wege, wie du diese besondere Zeit achtsam gestalten kannst:
1. Ein Ahnenaltar
Gestalte einen kleinen Platz mit Fotos, Erinnerungsstücken oder Symbolen deiner Vorfahren. Zünde Kerzen an, lege frische Blumen dazu oder etwas, das sie mochten. Verweile einen Moment in Dankbarkeit. Es geht nicht um Religion, sondern um Verbindung – um das Bewusstsein, dass du Teil einer langen Linie bist.
2. Ein Ritual des Loslassens
Schreibe auf, was du in diesem Jahr loslassen möchtest – Gedanken, Gewohnheiten, Ängste, Beziehungen. Verbrenne den Zettel (sicher, z. B. in einer Feuerschale) und sieh, wie der Rauch aufsteigt. Atme tief durch. Spüre die Leere, die entsteht – und den Raum für Neues.
3. Samhain-Yoga und Meditation
Wähle sanfte, erdende Asanas: Balasana (Kindhaltung), Paschimottanasana (Vorwärtsbeuge), Malasana (Tiefe Hocke) oder Viparita Karani (Beine an der Wand). In der Meditation kannst du dich mit deinem inneren Licht verbinden – dem Funken, der auch in der Dunkelheit leuchtet. Visualisiere eine Flamme in deinem Herzen, die dich wärmt und führt.
4. Naturverbindung
Ein Spaziergang bei Nebel oder Dämmerung wirkt in dieser Zeit besonders magisch. Lausche, rieche, beobachte. Vielleicht sammelst du einige Blätter oder Äste, um daraus eine kleine Herbstdekoration zu gestalten – als Symbol für den Kreislauf des Lebens.
5. Samhain-Feuer oder Kerzenritual
Wenn du kannst, entzünde ein kleines Feuer im Freien oder stelle mehrere Kerzen auf. Feuer steht für Transformation. Du kannst in die Flammen blicken und dir bewusst machen, was du in dir wandeln möchtest.
Ernährung und Selbstfürsorge im Übergang
Der Körper spürt den Wechsel der Jahreszeiten deutlich. Nach der Fülle des Sommers sehnt er sich nun nach Wärme, Erdung und Ruhe. Wurzelgemüse (Karotten, Rote Beete, Sellerie), Kürbis, Äpfel, Hafer und Nüsse stärken das Verdauungsfeuer und geben Stabilität. Gewürze wie Zimt, Ingwer und Kurkuma wärmen und vertreiben Trägheit.
Eine einfache, wohltuende Mahlzeit zu Samhain könnte eine goldene Kürbissuppe sein – mit Ingwer, Muskat und einem Schuss Kokosmilch. Dazu ein ruhiger Abend mit einer Decke, einem Buch und Kerzenlicht – das ist gelebtes Samhain.
Auch Rituale der Selbstfürsorge passen in diese Zeit: ein warmes Bad, eine Öl-Massage (Abhyanga), ruhiges Yin Yoga, Tagebuchschreiben. Samhain lädt uns ein, uns sanft zurückzuziehen, nicht als Flucht, sondern um wieder zu uns zu kommen.
Die psychologische Dimension: Schatten und Licht
Samhain ist auch die Zeit der Schattenarbeit – ein Begriff, der in der modernen Psychologie und Spiritualität gleichermaßen auftaucht. In der Dunkelheit dieser Jahreszeit können wir das sehen, was sonst verborgen bleibt: alte Wunden, verdrängte Gefühle, nicht gelebte Anteile.
Diese Schatten sind keine Feinde. Sie sind Teile von uns, die Heilung suchen. Wenn wir uns ihnen liebevoll zuwenden, entsteht Transformation. Wie die Natur im Herbst alles Überflüssige loslässt, dürfen auch wir Ballast abwerfen – um im Frühling neu zu erblühen.
Ein einfaches Samhain-Journal-Thema könnte lauten:
Was in mir darf sterben, damit Neues entstehen kann?
Welche alten Muster halte ich fest, aus Angst vor Veränderung?
Was bedeutet Tod für mich – und was möchte in meinem Leben neu geboren werden?
Der Weg durch die Dunkelheit ist immer auch ein Weg zum Licht.

Yoga-Impuls zu Samhain – Erde dich in der Dunkelheit
Ein kurzer, ruhiger Yin Yoga Flow für den Übergang:
Balasana (Kindhaltung) – atme tief in den Rücken, fühle Sicherheit und Geborgenheit.
Paschimottanasana (Vorwärtsbeuge im Sitzen) – lass los, was du festhältst.
Malasana (Tiefe Hocke) – spüre deine Wurzeln, deine Erdung.
Supta Baddha Konasana (liegender Schmetterling) – öffne das Herz für das, was war.
Viparita Karani (Beine an der Wand) – erlaube dir völlige Hingabe.
Verweile jeweils 3 bis 5 Minuten. Atme ruhig, lass Gedanken kommen und gehen. Zum Abschluss: Lege eine Hand auf dein Herz und flüstere:
„Ich bin Teil des Kreislaufs. Ich bin Licht im Dunkel.“
Meditation für Samhain – Das innere Licht in der Dunkelheit
Diese kurze Meditation (ca. 10 Minuten) kann abends oder am 31. Oktober praktiziert werden:
Setze dich bequem hin, schließe die Augen.
Spüre den Atem, ohne ihn zu verändern.
Stelle dir vor, du sitzt in einem dunklen Raum. Ruhig. Still. Sicher.
In deinem Brustraum leuchtet eine kleine Flamme – warm, golden, lebendig.
Mit jedem Atemzug wächst sie. Sie erhellt dein Inneres, sanft, ohne Eile.
Sie bringt Licht zu allen Orten in dir, die sich schwer oder dunkel anfühlen.
Du erkennst: Die Dunkelheit ist kein Feind – sie ist der Raum, in dem Licht geboren wird.
Verweile in dieser Erkenntnis.
Wenn du bereit bist, öffne langsam die Augen.
„Auch in der tiefsten Nacht gibt es ein Licht, das nie verlöscht.“
Samhain als Übergangsritual im modernen Leben
In unserer schnelllebigen Zeit, in der wir selten innehalten, ist Samhain eine Einladung, den Zyklus des Lebens bewusst zu leben. Wir feiern ständig Anfänge – Geburt, Frühling, Erfolg. Doch das Ende, die Stille, das Loslassen? Dafür nehmen wir uns kaum Zeit.
Samhain erinnert uns daran, dass das Ende nicht das Gegenteil des Anfangs ist, sondern seine Voraussetzung. Ohne Dunkelheit kein Licht. Ohne Sterben kein neues Leben.
Vielleicht bedeutet Samhain für dich, einen geliebten Menschen zu ehren. Vielleicht bedeutet es, eine alte Rolle abzulegen. Oder einfach, dich selbst wieder zu spüren – still, echt, ohne Maske.
Samhain im Jahreskreis: Das Tor zur Dunkelheit

Im Jahreskreis ist Samhain das Tor zur dunklen Jahreszeit. Es folgt auf Mabon (die Herbst-Tagundnachtgleiche) und geht dem Yule-Fest (Wintersonnenwende) voraus.
Während Mabon noch vom Gleichgewicht von Hell und Dunkel spricht, ist Samhain der Moment, in dem die Dunkelheit endgültig die Oberhand gewinnt – und wir lernen, mit ihr zu tanzen.
Die Zeit bis Yule ist eine Phase des Rückzugs. In der Natur geschieht kaum Sichtbares, doch im Inneren reift alles, was im Frühjahr geboren werden will.
Wer diesen Rhythmus lebt – bewusst, achtsam, im Einklang mit Körper und Seele – spürt, wie Samhain zu einer inneren Schwelle wird: Vom Außen ins Innen. Vom Tun ins Sein. Vom Licht in die Dunkelheit – und wieder zurück.
Fazit: Samhain – das stille Leuchten im Dunkel
Samhain ist kein Fest des Schreckens, sondern ein Fest der Ehrfurcht. Es erinnert uns an den Kreislauf von Werden und Vergehen – und daran, dass wir alle Teil dieser Bewegung sind.
Wenn du an Samhain eine Kerze entzündest, ein Gebet sprichst oder einfach still dankst, öffnest du dich der Magie des Übergangs.
In der Dunkelheit liegt kein Ende – sie ist der Schoß des Neuen. Und in jedem Atemzug, jedem Loslassen, jedem stillen Moment lebt das uralte Wissen fort:
„Nichts endet. Alles wandelt sich. Und im Atem der Nacht schläft schon der Morgen.“





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