Patanjali und das Yogasutra – Die zeitlose Lehre des Geistes und der inneren Freiheit
- Bettina Koch

- 30. Okt.
- 8 Min. Lesezeit
Wenn sich auf der Yogamatte für einen Moment Stille einstellt, entsteht etwas Kostbares: ein klarer, weiter Raum. In dieser Ruhe liegt das Herz des Yoga – und genau dort setzt Patanjali mit seinem Yogasutra an. Ein Name, der in der Yogawelt fast ehrfürchtig ausgesprochen wird. Aber wer war Patanjali eigentlich? Und was steckt hinter seinem berühmten Werk?

Inhaltsverzeichnis
Ein uralter Weg, der bis heute führt
Sein Werk ist eines der bedeutendsten Grundlagen der Yogaphilosophie und fasst die Essenz des Raja Yoga (Beherrschung des Geistes) zusammen. Es erklärt nicht, wie man Yoga übt, sondern warum. Es beschreibt, wie der Geist funktioniert, was uns leiden lässt und wie wir inneren Frieden finden können. Obwohl Patanjali vor über 2.000 Jahren lebte, wirkt seine Lehre heute fast wie eine Antwort auf die Rastlosigkeit des modernen Lebens.
Wer war Patanjali?
Der Legende nach war Patanjali der Sohn der Asketin Gonika – er wird auch "Gonikaputra" (Sohn der Gonika) oder "Gonardiya" genannt –, die allein in der Abgeschiedenheit lebte. Da sie niemanden fand, dem sie ihr Wissen weitergeben konnte, wandte sie sich in tiefer Hingabe an den Sonnengott Surya. Während ihres Gebets fiel eine kleine Schlange vom Himmel in ihre gefalteten Hände – sie verwandelte sich in einen Jungen, der sie um Aufnahme als Schüler bat. Gonika nannte ihn „Patanjali“ – aus pat (fallen) und anjali (Gebetshaltung) –, also „der, der in die gefalteten Hände fiel“.
Eine alternative Legende berichtet, dass Patanjali von Panini (dem berühmten Sanskrit-Grammatiker) in die Lehre genommen wurde.
Über Patanjali ist historisch wenig bekannt. Man vermutet, dass er zwischen dem 2. Jahrhundert vor Christus und dem 4. Jahrhundert nach Christus lebte. Vielleicht war er ein einzelner Gelehrter, vielleicht eine Zusammenführung mehrerer Lehrer, die das Wissen ihrer Zeit sammelten. Die Legende seiner himmlischen Geburt zeigt daher weniger ein biografisches Ereignis als vielmehr ein Sinnbild für das Erwachen spiritueller Erkenntnis.
Sicher ist nur, dass Patanjali derjenige war, der das Wissen über Yoga in eine klare, logische Struktur brachte. Daher wird er auch gerne als "Vater des Yoga" bezeichnet. Das Wort Yoga war schon damals kein neues Konzept. Es taucht in den ältesten indischen Schriften, den Veden und Upanishaden, auf. Doch diese Texte sprechen über Yoga oft poetisch, symbolisch oder spirituell. Patanjali hingegen machte daraus ein präzises System. Mit dem Yogasutra schuf er ein Werk, das bis heute als philosophische Grundlage der Yogatradition gilt – ein präzises Handbuch des Bewusstseins.
Außer dem Yogasutra werden Patanjali auch noch eine Grammatik und eine ayurvedische Schrift zugeordnet. Es ist allerdings umstritten, ob die gleichnamigen Autoren identisch sind.
Patanjali – Halb Mensch, halb Schlange
In indischen Darstellungen erscheint Patanjali fast immer in einer besonderen Form: sein Oberkörper ist menschlich, doch sein Unterkörper besteht aus einer sich windenden Schlangenspirale.
Über seinem Kopf thront häufig eine mehrköpfige Schlangenhaube, Symbol der kosmischen Schlange Ananta (auch Shesha genannt), die im Hinduismus als ewiger Träger und Beschützer des Göttlichen gilt.
Nach alter Überlieferung gilt Patanjali als Inkarnation der Schlange Ananta, des göttlichen Wesens, das in unendlicher Ruhe den Gott Vishnu trägt. In der yogischen Symbolik steht diese Schlange für Bewusstsein, Energie und Unendlichkeit.

Die menschliche Gestalt Patanjalis steht für Wissen, Sprache und Erkenntnis – die Fähigkeit, das Unsichtbare in Worte zu fassen. Die Schlangengestalt hingegen symbolisiert die ruhende, spiralförmige Kraft des Lebens (Kundalini), die in jedem Menschen schlummert und sich durch Yoga nach oben entfalten kann.
So vereint Patanjalis Darstellung Mensch und Energie, Geist und Natur, das Endliche und das Ewige. Er bringt die göttliche Weisheit in menschliche Form – genau wie sein Werk das Unendliche des Geistes in die Sprache des Verstehens übersetzt.
Diese Ikonographie ist also nicht nur mythologische Zierde, sondern ein Sinnbild für seine Lehre: Patanjali lehrt, wie sich das menschliche Bewusstsein aus der Enge des Egos zur Weite der Seele entfalten kann – wie eine Schlange, die sich häutet, um in neuer Klarheit zu erwachen.
Das Yogasutra – 195 Verse über die Natur des Geistes
Das Yogasutra besteht aus 195 kurzen Versen, den sogenannten Sutras. Das Wort Sutra bedeutet „Faden“ – jeder Vers ist wie ein Glied in einer Kette, die zusammen das ganze System des Yoga trägt.
Patanjali unterteilt sein Werk in vier Kapitel (Padas), die schrittweise von der Erkenntnis über die Praxis bis zur Befreiung führen:
Samadhi Pada – über die Natur und das Ziel des Yoga
Sadhana Pada – über die Praxis des Yoga
Vibhuti Pada – über die besonderen Fähigkeiten, die aus tiefer Konzentration entstehen
Kaivalya Pada – über Befreiung und das reine Selbst
Diese Struktur macht das Yogasutra zu einem Leitfaden des inneren Weges: vom Denken zum Erkennen, vom Erkennen zur Stille.
„Yoga citta vritti nirodhah“ – Der Schlüsselvers des Yogasutra
Gleich zu Beginn im ersten Kapitel beschreibt Patanjali, was Yoga wirklich ist:
"Yoga citta vritti nirodhah." – YS 1.2 Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen des Geistes.
Damit bringt er die Essenz der gesamten Lehre auf den Punkt. Der menschliche Geist ist ständig in Bewegung – Gedanken, Wünsche, Erinnerungen, Ängste. Erst wenn diese Bewegungen zur Ruhe kommen, zeigt sich das, was unverändert bleibt: unser wahres Selbst.
Yoga bedeutet also nicht, den Geist zu zwingen oder Gedanken zu unterdrücken, sondern ihn zu verstehen und zu beruhigen. In dieser Klarheit liegt Freiheit.
Die acht Glieder des Yoga – Patanjalis Weg der Praxis
Im zweiten Kapitel beschreibt Patanjali den praktischen Weg des Yoga – die acht Glieder des Yoga, auf Sanskrit Ashtanga Yoga. Diese acht Stufen sind keine starre Leiter, sondern ein ganzheitliches System, das Körper, Geist und Seele in Einklang bringt.
1. Yama – Der ethische Umgang mit der Welt
Die Yamas bilden das Fundament jeder Praxis. Sie beschreiben fünf Prinzipien, die unser Verhalten im Außen harmonisieren:
Ahimsa – Gewaltlosigkeit
Satya – Wahrhaftigkeit
Asteya – Nicht-Stehlen
Brahmacharya – Maßhalten
Aparigraha – Nicht-Anhaften
Diese Haltung schafft innere Klarheit und Vertrauen – die Basis für jede spirituelle Entwicklung.
2. Niyama – Der Umgang mit sich selbst
Die Niyamas richten den Blick nach innen:
Saucha – Reinheit
Santosha – Zufriedenheit
Tapas – Disziplin
Svadhyaya – Selbststudium
Ishvara Pranidhana – Hingabe an das Göttliche
Sie laden dazu ein, Verantwortung für das eigene Denken und Handeln zu übernehmen und eine bewusste Lebensführung zu kultivieren.
3. Asana – Die Haltung des Körpers
In der heutigen Yogawelt wird Asana oft mit Yoga gleichgesetzt, doch Patanjali beschreibt sie schlicht:
"Sthira sukham asanam." – YS 2.46 Die Haltung soll stabil und angenehm sein.
Für ihn war die Körperhaltung kein sportliches Ziel, sondern ein Mittel zur Ruhe und Sammlung.
4. Pranayama – Der Atem als Brücke
Prana bedeutet Lebensenergie. Durch bewusste Atemlenkung – Einatmung, Ausatmung, Atempausen – wird der Atem zu einem Werkzeug, um den Geist zu zentrieren und beruhigen. Pranayama verbindet den Körper und das Bewusstsein und hilft, die Energie in Balance zu bringen.
5. Pratyahara – Der Rückzug der Sinne
In dieser Stufe richtet sich die Aufmerksamkeit von der äußeren Welt nach innen.
Die Sinne werden nicht blockiert, sondern bewusst losgelöst. So entsteht ein Zustand innerer Unabhängigkeit – besonders wertvoll in einer Zeit permanenter Reizüberflutung.
6. Dharana – Konzentration
Hier beginnt Meditation in ihrem ursprünglichen Sinn. Dharana bedeutet, den Geist auf ein Objekt zu richten, ohne Ablenkung. Das kann der Atem sein, ein Mantra oder ein Symbol – alles, was den Geist in einen ruhigen Fokus führt.
7. Dhyana – Meditation
Wenn die Konzentration mühelos wird, entsteht Dhyana – ein Zustand kontinuierlicher Bewusstheit, in dem das Beobachten natürlich geschieht.
Meditation ist hier keine Technik mehr, sondern ein Seinszustand.
8. Samadhi – Verschmelzung und Freiheit
Samadhi beschreibt den Zustand vollständiger Klarheit, in dem das Getrenntsein zwischen Beobachter und Beobachtetem aufgehoben ist. Dieser Zustand ist das Ziel des Yoga, aber auch ein Beginn – das Erwachen des wahren Bewusstseins.

Warum Patanjalis Lehre heute aktueller ist als je zuvor
Patanjali hat in einer Zeit geschrieben, in der das menschliche Bewusstsein bereits dieselben Fragen stellte wie heute: Wie kann ich inmitten von Gedanken, Emotionen und Veränderungen inneren Frieden finden?
In einer Welt, die von Tempo und Ablenkung geprägt ist, wirken seine Worte wie Medizin. Das Yogasutra ist kein alter Text, sondern ein Werkzeug für die Gegenwart. Es zeigt, dass Klarheit und Ruhe nicht durch Kontrolle entstehen, sondern durch Verständnis und Achtsamkeit.
Die Psychologie des Yogasutra
Ein besonders faszinierender Aspekt ist Patanjalis Beschreibung der Kleshas – der Ursachen des Leidens. Diese fünf mentalen und emotionalen Muster wirken in jedem Menschen:
Avidya – Unwissenheit über die wahre Natur des Selbst
Asmita – Identifikation mit dem Ego
Raga – Anhaftung an das Angenehme
Dvesha – Ablehnung des Unangenehmen
Abhinivesha – Angst vor Veränderung oder Tod
Diese Dynamiken sind zeitlos. Patanjali war einer der ersten Denker, der die Mechanismen des Geistes so präzise analysierte. Das Yogasutra ist daher nicht nur Philosophie, sondern auch Psychologie – ein Handbuch für Selbsterkenntnis und emotionale Freiheit.
Übung und Loslassen – Die Essenz jeder Praxis
Eine der zentralen Aussagen des Yogasutra lautet:
"Abhyasa vairagyabhyam tannirodhah." – YS 1.12 Durch beständige Übung und Loslassen kommt der Geist zur Ruhe.
Hier vereint Patanjali zwei Kräfte, die sich ergänzen: Disziplin und Hingabe.
Ohne Übung fehlt Tiefe, ohne Loslassen fehlt Leichtigkeit. Diese Balance bildet das Herz jeder Yogapraxis – ob auf der Matte, im Atem oder im Leben selbst.
Yoga als Weg zur Selbsterkenntnis
In der modernen Yogapraxis liegt der Fokus oft auf Körperhaltungen. Doch Patanjali erinnert daran, dass Yoga mehr ist als Bewegung – es ist ein Weg der Selbsterkenntnis.
Wenn die Praxis regelmäßig und achtsam ausgeführt wird, beginnt sich das Denken zu klären. Der Körper wird zum Instrument des Bewusstseins, der Atem zum Anker, und das innere Erleben wird ruhiger, wacher, weiter.
So wird Yoga zu einer Erfahrung, die weit über die Matte hinausreicht – in jede Handlung, jedes Gespräch, jede Begegnung.
Die Einfachheit der Wahrheit
Patanjalis Worte sind schlicht, aber sie tragen Tiefe in sich. Er beschreibt keine Religion, keine Dogmen – nur Bewusstsein. Wenn der Geist still wird, bleibt das, was unveränderlich ist: reines Sein.
"Tada drastuh svarupe avasthanam." – YS 1.3 Dann ruht der Sehende in seinem wahren Selbst.
In diesem Satz verdichtet sich das Ziel des Yoga: Zu erkennen, wer wir wirklich sind, jenseits von Rollen, Gedanken und Geschichten.
Fazit – Ein alter Text mit neuer Bedeutung
Patanjali hat kein Yogasystem geschaffen, um den Körper zu perfektionieren, sondern um den Geist zu befreien. Seine Lehre ist ein Wegweiser für alle, die nach Klarheit, Balance und Sinn suchen – unabhängig von Zeit, Kultur oder Glauben.
Das Yogasutra lehrt, dass Freiheit nicht in der Welt, sondern im Bewusstsein selbst beginnt. In einer Zeit, in der vieles laut und unruhig ist, erinnert es daran, dass wahre Stärke aus Stille erwächst.
Yoga ist kein Ziel, sondern ein Weg – der nach innen führt.
Buchempfehlungen
Über Freiheit und Meditation – Das Yoga Sutra des Patanjali von T.K.V. Desikachar: Das Yoga Sūtra von Patañjali gilt als Grundlagenwerk des Yoga. Es erklärt, wie der menschliche Geist funktioniert, warum wir leiden und wie innere Freiheit möglich ist. Seine klaren, zeitlosen Verse bieten praktische Wege zu Meditation und Selbsterkenntnis – frei von religiösen Dogmen und erstaunlich modern. T.K.V. Desikachar macht die Lehren in seiner Einführung verständlich und zeigt ihre Bedeutung für den Alltag.
Das Yogasutra: Von der Erkenntnis zur Befreiung von R. Sriram: In dieser hochwertigen Neuausgabe seiner Übersetzung verdeutlicht R. Sriram, einer der renommiertesten Yogalehrer im deutschsprachigen Raum, wie zeitlos und alltagsnah diese 2000 Jahre alte Lehre ist. Mit klarer Sprache und anschaulichen Beispielen macht er Patanjalis Erkenntnisse für moderne Leser verständlich und lebendig.
Die Yoga-Sutras im Alltag leben – Die philosophische Praxis des Patanjali von Eckard Wolz-Gottwald: Dieses Buch hebt sich durch seinen praxisnahen Zugang zu Patanjalis Yoga-Sutras ab. In 18 Lektionen verbindet der Autor fundierte Erklärungen der philosophisch-spirituellen Lehren mit konkreten Übungen, die ihre Essenz direkt erfahrbar machen. So wird das Yoga-Sutra nicht nur verstanden, sondern erlebt – ein außergewöhnliches Lehrbuch für alle, die Yoga als bewussten Lebensweg für Körper, Geist und Seele vertiefen möchten.





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